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Mütter von Sternenkindern erzählen - Artikel vom 23. Juli 2020 in den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) |
„Sie soll unter meinem Herzen einschlafen”:
Wie es ist, ein sterbendes Kind weiterzutragen
Wie ist es, wenn man weiß, dass das eigene Kind noch vor seiner Geburt sterben wird?
Zwei Mütter aus der Region erzählen von der Schwangerschaft mit ihren Sternenkindern.
Von Christina Fischer, BNN (Badische Neueste Nachrichten)
23. Juli 2020 | 06:30 Uhr
„Bittersüß” – so nennt Natascha Bauer aus Bretten die Zeit, bevor ihre Tochter Lilli starb. Das war in der 24. Schwangerschaftswoche. „Man erlebt einen Teil der Trauer und des Abschieds, während das Kind noch lebt”, sagt Bauer rückblickend. Vor acht Jahren, am 14.06.2012, kam Lilli still zur Welt – zwei Tage nachdem sie in Bauers Bauch gestorben war.
Die stille Geburt von Leon, dem Sohn von Clara Seifert (Name v. d. Redaktion geändert) aus Karlsruhe ist erst wenige Monate her. Seifert erfuhr am 2. April in der 30. Schwangerschaftswoche, dass ihr Sohn Leon sterben wird.
Sie entschied sich – wie Bauer – gegen einen Abbruch der Schwangerschaft und dafür, ihr Kind so lange wie möglich in ihrem Bauch weiterleben zu lassen.
"Viele fragen sich, warum man schwanger bleibt, wenn das Kind sowieso stirbt." Natascha Bauer
Nicht alle aus dem Familien- und Bekanntenkreis der beiden Frauen hatten für diese Entscheidungen Verständnis. „Viele fragen sich, warum man schwanger bleibt, wenn das Kind sowieso stirbt”, sagt Bauer.
Sie ist inzwischen Erste Vorsitzende des Vereins „Weitertragen e.V., wo Betroffene sich miteinander austauschen und Rat und Hilfe finden können. Die Geschichten des „Weitertragens” müssen erzählt werden, findet Bauer. Erst dann würden viele verstehen, warum sich Eltern für diesen Weg entscheiden.
Die Diagnose
Clara Seiferts Geschichte beginnt nicht mit einer eindeutigen Diagnose. Ihre Frauenärztin stellt bei einem Routineultraschall lediglich eine Auffälligkeit der Nackenfalte von Seiferts Baby fest. Die Eltern sind daraufhin plötzlich mit der Vorstellung konfrontiert, dass ihr Kind mit Down-Syndrom zur Welt kommen könnte.
Ein Pränataldiagnostiker stellt dann jedoch eine schlimmere Diagnose: „Freie Trisomie 15 - nicht mit dem Leben vereinbar.” Seifert und ihr Mann können es kaum glauben. Die Auffälligkeit am Nacken bildet sich sogar zurück und Leon entwickelt sich auf den ersten Blick normal. „Ich konnte ihn auch schon spüren”, sagt Seifert. Die Eltern entschließen sich zu einer weiteren Fruchtwasseruntersuchung. Diese liefert jedoch kein eindeutiges Ergebnis.
„Wir konnten uns das am Anfang gar nicht vorstellen. Ein Leben mit einem beeinträchtigten Kind”, erzählt Seifert. „Später haben wir gesagt, wie gerne hätten wir ein Kind mit Down-Syndrom gehabt, wenn die Alternative lautet: Ihr Kind wird sterben.”
Doch genau diesen Satz hört Seifert einige Zeit später im Mannheimer Uni-Klinikum erneut. Diesmal ist die Diagnose endgültig.
"Es ist vollkommen legitim, das Kind entscheiden zu lassen, wann es geht." Natascha Bauers Gynäkologe, Bretten
Auch Natascha Bauers Geschichte beginnt ähnlich. Sie hat in der 20. Schwangerschaftswoche einen Termin bei ihrem Gynäkologen in Bretten zum „großen Screening”. Plötzlich wird der Arzt ganz ruhig. „Diese Veränderung in der Stimmung merkt man sofort”, erinnert sich Bauer.
Zwei Stunden später erhält sie die erschütternde Diagnose: Ihre Tochter Lilli ist nicht lebensfähig und wird in den nächsten Wochen oder Monaten sterben. Es sei denn, sie und ihr Mann treffen vorher „eine Entscheidung”, wie der Arzt sagt.
Was er damit meint: Bauer kann die Schwangerschaft abbrechen. Dabei würde der Fötus in ihrem Bauch erst betäubt werden und dann durch eine Kaliumchlorid-Spritze in die Nabelschnur oder ins Herz sterben.
„Man hat das Gefühl, man muss jetzt sofort reagieren”, sagt Bauer. Doch ihr Arzt sitzt ihr gegenüber „wie ein Buddha” und sagt: „Ihr Kind wird sterben. Aber sie müssen nicht entscheiden. Es ist vollkommen legitim, das Kind entscheiden zu lassen, wann es geht.”
Bauer beschließt: „Lilli soll unter meinem Herzen einschlafen. Das ist für mich die beste Art, wie sie sterben kann.”
Auch Clara Seifert entscheidet sich im Frühjahr 2020 dafür, ihren sterbenden Sohn Leon weiterzutragen.
Leben in der Zwischenwelt
Wie wird mein Kind sterben? Geht es meinem Kind schlecht? Wird es Schmerzen haben? Diese Fragen beschäftigen beide Frauen während ihrer Schwangerschaft. Ihre Ärzte beruhigen sie so gut wie möglich.
„Leon dämmert vor sich hin und schläft irgendwann einfach ein”, sagt Seiferts Arzt. Auch Bauer erklärt man es ähnlich: „So wie alte Menschen irgendwann einfach nicht mehr aufwachen, wird auch Lilli einschlafen.” Für die beiden Mütter ist der Gedanke ein kleiner Trost.
"Ich habe immer zu ihr gesagt: Ich bin so froh, dass du noch da bist. Aber wenn es nicht mehr geht, darfst du gehen." Natascha Bauer
Clara Seifert kann sich von ihrer Hebamme ein Gerät ausleihen, mit dem sie Leons Herztöne hören kann. „Leon war ein interessiertes, neugieriges Kind”, sagt sie. „Er hat auf Musik, Berührungen und auf die Stimmen seiner Geschwister und seines Vaters reagiert.”
Gleichzeitig bereitet sich Seifert jedoch auch auf die Geburt nach Leons Tod vor. Das Weitertragen-Forum ist ihr dabei eine Stütze. „Es gibt einen internen Bereich mit Fotos”, erklärt sie. „So konnte ich mich psychisch darauf einstellen, wie mein Kind nach der Geburt aussehen wird.”
Natascha Bauer bleibt mit Lilli in dieser Zeit immer im Dialog. „Ich habe immer zu ihr gesagt: Ich bin so froh, dass du noch da bist. Aber wenn es nicht mehr geht, darfst du gehen”, erzählt sie.
Für Bauers Mann ist diese Zeit schwieriger. „Ich kann in dieser Zwischenwelt langsam nicht mehr leben”, sagt er nach einiger Zeit zu ihr. Er muss sich emotional distanzieren, kann auch den Bauch seiner Frau nicht mehr anfassen. Letztendlich dauert dieses Leben in der Zwischenwelt für Natascha Bauer und ihren Mann vier Wochen. Für Clara Seifert und ihren Mann sind es genau 26 Tage.
Die Geburt eines Sternenkindes
„Als Leon gestorben war, habe ich es deutlich gemerkt”, erzählt Seifert. „Das Körpergefühl ist ein anderes.” Ganz sicher ist sie sich damals jedoch nicht.
Seifert selbst geht es allerdings schlechter. Sie hat starke Wassereinlagerungen, ist kurzatmig und hat Kopfschmerzen. Einen Tag später kommen Herzrasen und Übelkeit hinzu. Seiferts Arzt schickt sie umgehend ins Krankenhaus. Die Möglichkeit besteht, dass die Geburt eingeleitet werden muss. Falls Leon noch lebt, wäre das sein Todesurteil. Es ist klar, dass er den Stress einer Geburt nicht überleben wird.
Doch in der Klinik stellen die Ärzte fest, dass Leon bereits gestorben ist. „Ich war dankbar, dass ich die Entscheidung über Leben und Tod nicht treffen musste”, sagt Seifert.
Die Ärzte leiten die Geburt ein. Zwei Tage nach seinem Tod wird Leon schließlich geboren. Obwohl die Corona-Pandemie in dieser Zeit auf ihrem Höhepunkt ist, erlaubt das Klinik-Personal, dass eine Sternenkind-Fotografin kommt, um ein paar letzte Erinnerungen einzufangen. Auch dafür ist Seifert dankbar.
Bei Natascha Bauer ist es ein Montagmorgen, an dem sie merkt, dass da etwas anders ist in ihrem Bauch. „Es fühlt sich nicht mehr so an, als ob da etwas schwimmt. Es fühlt sich an, als liegt da ein Stein im Bauch”, beschreibt sie es. Am Dienstag ist sie bei ihrem Arzt.
Er bestätigt ihr bei einem Ultraschall, dass Lilli gestorben ist und schickt Bauer nach Hause. „Machen Sie in Ruhe Pläne”, sagt er ihr. Sie soll sich darum kümmern, was sie in die Klinik mitnehmen will. Und sie braucht jemanden, der auf ihre Tochter Hanna aufpasst.
Am Mittwochabend wird die Geburt in der Klinik eingeleitet. Die Einleitung kann bei manchen Eltern drei, vier Tage dauern. Bauers Tochter Lilli kommt jedoch bereits am Donnerstagmorgen in der Rechbergklinik in Bretten zur Welt. „Ihr Körper hat lange genug Zeit gehabt, um loszulassen”, sagt eine Krankenschwester zu Bauer.
Eine Stunde für den Abschied
Zeit für einen Abschied bekommt Bauer jedoch zunächst nicht. Eine Hebamme wickelt Lilli in ein grünes OP-Tuch und bringt sie weg, noch bevor die Eltern das Mädchen sehen können. Dabei hatten sie für Lilli extra eine eigene Decke mitgebracht. Bauer kommt zur Ausschabung in den OP.
Erst gegen Mittag kommt eine Kinderkrankenschwester zu Bauer ins Zimmer und fragt, ob sie und ihr Mann ihr Kind noch einmal sehen wollen. Sie bekommen zunächst einen Umschlag mit zwei Fotos von Lilli, damit sie sich an ihren Anblick gewöhnen können. „Ein Kind, das in der 24. Woche zur Welt kommt, sieht natürlich anders aus”, sagt Bauer.
Dann bringt die Schwester Lilli, eingewickelt in einige Tücher und in einem Körbchen zu ihren Eltern. Für ihren „Kennenlern-Abschied”, wie Bauer es nennt, bleibt den Eltern etwa eine Stunde.
Lillis Fußabdruck ist im Original 3,5 cm lang. Ihre Eltern haben ihn auf die Karten zur Geburt drucken lassen als Symbol dafür, dass Lilli tatsächlich „Mensch war”, so Bauer. Dazu war auf der Karte der Spruch zu lesen: „Auch wenn Deine kleinen Füße nie die Erde berührten, sind Deine Spuren trotzdem da. Überall und für alle Zeit.”
Weil Lilli bei ihrer Geburt schwerer als 500 Gramm ist, fällt sie in Baden-Württemberg unter die Bestattungspflicht. Darunter können Eltern ihre Babys auf eigene Kosten bestatten lassen, wenn sie das möchten. Außerdem darf Lilli in Bauers Stammbuch stehen. „Ein Nachweis, dass man ein Kind hat, das nicht da ist”, sagt sie. Für sie und viele andere Eltern sei das wichtig und tröstlich.
"Wenn das Kind totgeschwiegen wird, ist es noch schlimmer." Clara Seifert
Lilli hat ihr eigenes Grab. „In den Himmel geboren” steht auf dem Grabstein. Zwischen den Blumen sitzt eine Stofftier-Raupe, die ihre ältere Schwester Hanna ausgesucht hat. Ihr Grab wird regelmäßig von ihren Eltern, ihrer Schwester Hanna und ihrem jüngeren Bruder Moritz besucht. Später hat die Familie Flusskiesel für das Grab bemalt und die Raupe noch einmal größer nachgebaut.
„Das Erinnerungen-Schaffen hat nicht aufgehört, nachdem sie gestorben ist”, sagt Bauer. Erinnerungen entstünden etwa durch Gespräche über Lilli. So hinterlasse sie eine Spur, die vielleicht bei jemand anderem etwas Positives bewirke – auch wenn das Mädchen nie gelebt hat.
„Wenn man über Leon redet, lebt er weiter”, erklärt auch die Karlsruherin Clara Seifert. Würde das Kind totgeschwiegen, wäre alles noch schlimmer. Deswegen sei es besser, jemand sage etwas Ungeschicktes, statt zu schweigen. „Dann kann man ins Gespräch gehen”, so Seifert.
Die Erfahrung, ein Kind noch im Mutterleib zu verlieren und tot zur Welt bringen zu müssen, hat das Leben beider Frauen grundlegend verändert. Doch würden sie etwas anders machen, wenn das möglich wäre?
„Wenn ich mich heute entscheiden müsste, mit diesem Kind entweder nie schwanger gewesen zu sein oder es wieder so verlieren zu müssen, würde ich mich für die Schwangerschaft entscheiden”, sagt Natascha Bauer.
„Weil Lilli trotzdem ihre Spuren hinterlassen hat in unserer Familie.”
Hier der Link zum Original-Artikel in der BNN. Dort kann man auch die Fotos sehen, die integriert wurden - das lässt die Blog-Software hier nicht zu.
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